Unsichtbare Gefahren erkennen: Moderne Prävention von Herzinfarkt und Schlaganfall

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30. September 2025

Dr. Andrea Gartenbach

  • Health
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Unsichtbare Gefahren erkennen: Moderne Prävention von Herzinfarkt und Schlaganfall

Alle zwei Minuten stirbt in Europa ein Mensch an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung. Meist ohne jede Vorwarnung. Herzinfarkt oder Schlaganfall sind oft die erste sichtbare Manifestation einer still verlaufenden Krankengeschichte. Das Problem: Unser klassisches Vorsorgesystem erkennt Risiken erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist.

Warum Standardwerte nicht reichen

Die gesetzliche Vorsorge konzentriert sich auf Blutdruck und Gesamtcholesterin, bei Männern über 65 Jahren kommt ein Aortenscreening hinzu. Doch das greift zu kurz. Gesamtcholesterin etwa sagt nichts darüber aus, wie viele riskante Partikel im Blut zirkulieren, die Ablagerungen in Gefäßen fördern, sogenannte atherogene Partikel. Und auch Ultraschalluntersuchungen großer Gefäße zeigen Veränderungen erst, wenn die Krankheit bereits fortgeschritten ist. Besonders kritisch: Die Herzkranzgefäße, die am anfälligsten sind und wo das Risiko am höchsten ist, bleiben in dieser Routine unsichtbar.

Diese mangelhafte Diagnostik betrifft übrigens nicht nur Mitglieder der GKV. Mittlerweile orientieren sich auch viele private Krankenversicherungen in ihrer Leistungsübernahme an den Vorgaben der gesetzlichen Vorsorge. Das hat zur Folge, dass auch dort essenzielle Präventionsdiagnostik oft nicht übernommen wird. Statt Fortschritt zu ermöglichen, orientiert sich Prävention an veralteten Standards.
Apropos veraltet: 

Cholesterin im Kontext

Cholesterin ist kein Feind, sondern ein lebenswichtiger Baustoff. Es stabilisiert Zellmembranen und dient als Ausgangsstoff für Vitamin D, Gallensäuren und Hormone wie Cortisol, Testosteron oder Estradiol. Rund 80 Prozent davon stellt die Leber selbst her, nur ein kleiner Teil stammt aus der Ernährung. Entscheidend für das Risiko ist daher nicht die bloße Menge, sondern die Transportform und die Kombination mit genetischen, metabolischen und entzündlichen Faktoren.



Eine mehrdimensionale Risikodiagnostik

Zeitgemäße Prävention muss viele Ebenen berücksichtigen, und dazu gehören Biomarker, die heute längst verfügbar sind.

Gefäßmechanik

Dauerhaft erhöhter Blutdruck wirkt wie ständiger Wellengang auf die zarte Innenhaut der Gefäße, das Endothel. Winzige Verletzungen entstehen, Blutplättchen setzen sich fest, Fette lagern sich ein. So entsteht die Grundlage für gefährliche Plaques.

Lipidologie

Hier geht es um die Transportformen von Cholesterin und Fetten im Blut:

ApoB ist der zentrale Marker für die Zahl der atherogenen Partikel. Je mehr Partikel, desto größer das Risiko für Ablagerungen.

Komplettes Lipidpanel, das heißt  LDL, HDL und Triglyceride inkl. Subfraktionierung der Lipide in Partikelanzahl, Größe und Dichte.

Lipoprotein(a), kurz Lp(a), ist eine spezielle Form des LDL-Cholesterins, an die ein zusätzliches Eiweiß gebunden ist. Dadurch fördert es nicht nur Ablagerungen, sondern auch Entzündungen und Blutgerinnsel. Leitlinien empfehlen eine einmalige Messung des Lp(a) bei allen Erwachsenen. Für Frauen ist es sinnvoll, den Wert zusätzlich vor und nach der Menopause zu kontrollieren, da das kardiovaskuläre Risiko in dieser Lebensphase stark ansteigt. Er ist ein starker genetischer Risikofaktor.

ApoE-Genotyp beeinflusst, wie unser Körper Fette verarbeitet. Manche Varianten gehen mit einem erhöhten Risiko für Arteriosklerose oder Alzheimer einher.

Entzündung und Endothelgesundheit

Das Endothel ist die dünne Zellschicht, die alle Blutgefäße auskleidet, eine Art Schutzfolie. Es reguliert viele wichtige Prozesse: den Blutfluss, den Austausch von Stoffen, die Blutgerinnung und auch Entzündungsreaktionen. Wenn das Endothel geschädigt ist, können Ablagerungen entstehen, der erste Schritt in Richtung Arteriosklerose.
Bestimmte Blutwerte zeigen an, wie es um diese Schicht steht:

hsCRP weist auf stille, systemische Entzündungen hin, die Gefäße schwächen und Plaque-Bildung fördern.

Lp-PLA2 zeigt, ob bereits Entzündungen direkt in der Gefäßwand aktiv sind.

Homocystein, ein Abbauprodukt des Eiweißstoffwechsels, macht die Gefäße verletzlicher und signalisiert zudem, dass die Methylierung, ein wichtiger Steuerungsprozess für Entgiftung und Genregulation, nicht optimal läuft.



Metabolische Gesundheit

Auch der Zucker- und Fettstoffwechsel spielt eine Schlüsselrolle:

Nüchternglukose und Insulin zeigen, wie gut der Körper den Blutzucker reguliert.

Der HOMA-Index, errechnet aus Zucker- und Insulinwerten, weist früh auf eine Insulinresistenz hin, einen der wichtigsten Treiber für Gefäßschäden.

Adipokine wie Leptin und Adiponektin sind Botenstoffe aus dem Fettgewebe. Sie verraten, ob Fettzellen entzündungsfördernd wirken oder gesund regulierend.

Weitere optionale Dimensionen

Mikronährstoffe die als Cofaktoren dienen, wie zB der Omega-3-Index, zeigen, wie viele der entzündungshemmenden Omega-3-Fettsäuren EPA und DHA in den Zellmembranen stecken.

Marker für oxidativen und nitrosativen Stress wie 8-OHdG, MDA-LDL und Nitrotyrosin sind funktionell ergänzende Laborwerte.

8-OHdG: DNA-Schädigung durch freie Sauerstoffradikale

MDA-LDL: oxidierte LDL-Partikel, Hinweis auf lipidbasierten Oxidationsstress

Nitrotyrosin: entsteht, wenn reaktive Stickstoffverbindungen (Peroxynitrit) Zellen schädigen – ein frühes Warnsignal für endothelialen Stress.

NT-proBNP Ein Marker um eine beginnende Herzschwäche frühzeitig zu erkennen.

Die Herzfrequenzvariabilität (HRV) gibt Aufschluss darüber, wie flexibel sich das Herz an Belastung und Erholung anpasst. Dauerhaft niedrige Werte weisen auf Stressbelastung im Nervensystem hin.

Eine Polysomnographie ist eine spezielle Schlafmessung, die Atemaussetzer (Schlafapnoe) aufdeckt. Diese sind ein oft übersehener Risikofaktor für Herz und Gefäße.


Bildgebung: Präziser hinschauen

Blutwerte bilden aber nicht die vollständige Realität ab. Entscheidend ist, was tatsächlich in den Gefäßen passiert.

CAC-Score misst per CT, wie stark die Herzkranzgefäße bereits verkalkt sind und ist ein etablierter Indikator für das individuelle Risiko.

CT-Koronarangiographie macht nicht nur Verkalkungen, sondern auch weiche, instabile Plaques sichtbar, die besonders gefährlich sind.

KI-gestützte Tools wie Cleerly aus den USA können harte und weiche Plaques noch präziser unterscheiden und erlauben so eine differenzierte Risikoeinschätzung.

Natürlich bedeuten CT-Verfahren Strahlenbelastung (und bei der Angiographie zusätzlich Kontrastmittel). Doch gerade in der Prävention ist ein gezielter Einsatz zur Risikostratifizierung unverzichtbar – um rechtzeitig instabile Plaques zu erkennen, bevor sie klinisch zum Problem werden.


Fazit: Zeit für einen Paradigmenwechsel

Herz-Kreislauf-Erkrankungen entstehen nicht von heute auf morgen. Sie sind das Ergebnis jahrzehntelanger, stiller Prozesse. Doch unser aktuelles Vorsorgesystem erkennt sie oft erst, wenn es zu spät ist. Wir brauchen daher einen neuen Standard: ApoB oder Non-HDL-C als überlegene Marker der Partikelzahl statt nur LDL-C, ein Lp(a)-Screening mindestens einmal im Leben für alle Erwachsenen, Entzündungs-, Stoffwechsel- und Stressmarker als Frühwarnsystem sowie moderne Bildgebung, die das tatsächliche Risiko sichtbar macht.

Die Werkzeuge sind da. Jetzt müssen Politik und Krankenkassen den Mut haben, sie konsequent einzusetzen.