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2. Dezember 2025
Dr. Andrea Gartenbach
Dr. Andrea Gartenbach ist Fachärztin für Innere- und Funktionelle Medizin und Expertin für Longevity. Im zweiten Teil ihrer Kolumne über den metabolischen Rhythmus erklärt sie, warum Muskeln das wichtigste Stoffwechselorgan sind und wie man seinen Proteinbedarf optimal deckt
Wissen Sie, welches Organ unser biologisches Alter am entscheidendsten beeinflusst? Es ist unsere Muskulatur. Ja, das haben Sie richtig gelesen. Obwohl ein trainierter Körper natürlich optisch ansprechend ist und jugendlich aussieht, ist unser Muskelgewebe in erster Linie nämlich kein ästhetisches Accessoire, sondern ein hochaktives Stoffwechselorgan.
Jede seiner Fasern kommuniziert biochemisch mit Leber, Fettgewebe, Gehirn und Immunsystem. Diese Kommunikation formt unseren Energiehaushalt Tag für Tag, Atemzug für Atemzug, Herzschlag für Herzschlag. Es ist für unseren gesunden Energiestoffwechsel und unser Wohlbefinden also essentiell, über genügend Muskelmasse zu verfügen. Und zwar in jedem Lebensalter, aber umso wichtiger, je älter wir werden.
Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ich erinnere mich an eine Patientin Anfang 50, die unter konstanter Erschöpfung, Schlafproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten und mangelnder Libido litt. Die Laborwerte waren weitgehend unauffällig, allerdings war der Insulinspiegel trotz ausgewogener Ernährung leicht erhöht.

Dr. Andrea Gartenbach, Internistin und Direktorin für Clinical Education, Geneva College of Longevity Science
Das zugrundeliegende Problem: Sie hatte über die Jahre massiv an Muskulatur verloren. Mit der Menopause setzte eine metabolische Kettenreaktion ein. Ihr Körper hatte keine Reserven mehr, um Energie flexibel zu erzeugen. Ihre Meditations- und Yogapraxis und das leichte Lauftraining, das sie zum Ausgleich für ihre überwiegend im Sitzen ausgeführte berufliche Tätigkeit etabliert hatte, waren nicht ausreichend, um den negativen Effekten entgegenzuwirken. Erst gezieltes Krafttraining mit ausreichender Proteinzufuhr brachte ihren Körper ins Gleichgewicht zurück.
Jede Muskelaktivität initiiert ein molekulares Nachrichtensystem im Körper. Aktive Muskelfasern schütten Myokine aus, bioaktive Signalstoffe, die über die Blutbahn wirken und dort entzündliche Prozesse reduzieren sowie die Insulinempfindlichkeit der Zellen verbessern.
Regelmäßiges Training stärkt also nicht nur die Muskulatur, sondern optimiert auch die zelluläre Signalübertragung. Studien belegen, dass bereits zwei Krafttrainingseinheiten pro Woche die Mitochondrienfunktion steigern und die Insulinsensitivität signifikant verbessern können. Beide sind zentrale Faktoren für die metabolische Gesundheit und die Prävention chronischer Erkrankungen.
Muskeln sind folglich nicht nur ein aktives endokrines Organ, das den Stoffwechsel orchestriert. Bewegung ist kein optionaler Lifestyle Faktor, sondern ein molekular präzises Instrument, das direkt in zentrale Stoffwechsel- und Entzündungsprozesse eingreift und therapeutisch wirksam ist.
Damit Muskulatur erhalten und erneuert werden kann, benötigt sie ausreichend Rohstoffe. Protein liefert Aminosäuren, aus denen Enzyme, Hormone und Zellstrukturen entstehen.
Doch wie so oft in der Biologie entscheidet die Dosis über die Richtung. Zu wenig Protein führt zu Muskelschwund und verlangsamtem Stoffwechsel. Zu viel wiederum hält das System in Daueraufbau und hemmt die Zellreinigung (Autophagie), die essenziell für Langlebigkeit ist. Das wollen wir auch nicht, weil dies wiederum Alterungsprozesse fördern kann.
Das Ziel ist die biochemische Balance. Etwa 1,2 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag gelten in der Regel als funktionell optimal. Entscheidend ist hier der Kontext.
So entsteht ein dynamischer Wechsel zwischen Belastung und Regeneration, ein biologischer Grundrhythmus, den die Longevity-Forschung als zentralen Mechanismus für gesundes Altern identifiziert hat. In stoffwechselaktiven Phasen produziert die Zelle Energie, synthetisiert neue Zellbestandteile und treibt Wachstum an. In regenerativen Phasen dagegen aktiviert sie Reparaturprogramme, räumt beschädigte Strukturen auf und erneuert sich von innen heraus.
Qualität vor Ideologie: Die Debatte, ob tierisches oder pflanzliches Protein besser ist, verfehlt oft den Punkt. Entscheidend ist nicht ob pflanzlich oder tierisch, sondern die biologische Wertigkeit des Proteins, also sein Aminosäureprofil und seine Verwertbarkeit im Körper.
Fisch, Eier, fermentierte Milchprodukte, Hülsenfrüchte und Nüsse liefern unterschiedliche, sich ergänzende Spektren essenzieller Aminosäuren und stoffwechselrelevanter Mikronährstoffe. Besonders relevant sind Leucin, Methionin und Glycin, da sie zentrale Rollen im Muskelaufbau, in der Regeneration und in der Entgiftung spielen.
Ob tierisch, pflanzlich oder kombiniert – entscheidend ist nicht der Grundsatz, sondern der Einzelfall: die biologische Wertigkeit, die individuelle Stoffwechselreaktion und die persönliche Verträglichkeit. Auch hier ist es nötig, den eigenen Körper zu kennen: Wer Parameter wie Körperzusammensetzung (z. B. via BIA), Insulin oder IGF-1 im Blick behält, versteht schnell, dass der individuelle Proteinbedarf dynamisch und sehr persönlich ist.
Muskuläre Intelligenz: Muskulatur wächst nicht durch mehr, sondern durch gezielte Reize. Kurze, klar dosierte Belastungen – etwa drei Krafttrainingseinheiten pro Woche à 30 Minuten – setzen stärkere Anpassungsimpulse als seltenes, überlanges oder extrem intensives Training. Entscheidend sind die Regelmäßigkeit und die Qualität der Bewegungsausführung, nicht das maximal bewegte Gewicht.
Mit jeder Muskelkontraktion steigt die Aktivität der Mitochondrien, jener Zellorganellen, die Energie produzieren. Werden sie wiederholt gefordert, vermehren und optimieren sie sich. Der Stoffwechsel arbeitet effizienter, Belastbarkeit und Regeneration verbessern sich. Studien zeigen, dass Menschen mit gut erhaltener Muskelmasse niedrigere Entzündungswerte, stabilere Blutzuckerprofile und eine höhere funktionale Gesundheit im Alter aufweisen.
Muskulatur ist damit gespeicherte Anpassungsfähigkeit, ein biologischer Schutzmechanismus gegen altersbedingten Funktionsverlust. Und dieser Mechanismus bleibt ein Leben lang trainierbar.
Hier ist Kohärenz entscheidend. Wer morgens aktiv ist, signalisiert dem Körper Energiebedarf und profitiert von einer nährstoffreichen Mahlzeit. Wer abends zur Ruhe kommt, unterstützt die Regeneration, indem man späte, verdauungsintensive Mahlzeiten reduziert. Diese Abstimmung zwischen Aktivität und Nahrungsaufnahme stabilisiert die circadiane Genregulation und dämpft den nächtlichen Stressstoffwechsel und stärkt damit die Synchronität zwischen Stoffwechsel- und Hormonuhr.
Schon kleine Anpassungen entfalten messbare Wirkung:
Ein proteinbetontes Frühstück unterstützt die Balance von Cortisol und Blutzucker.
Eine gezielte Mahlzeit nach dem Training, mit Eiweiß und qualitativ hochwertigen Fetten, verbessert Regeneration und Stoffwechselantwort.
Pausen von vier bis fünf Stunden zwischen den Mahlzeiten ermöglichen, dass Insulin wieder abfällt und die Stoffwechselumschaltung auf Zellreparatur und Fettstoffwechsel erleichtert wird.
Diese scheinbar einfachen Entscheidungen verändern in der Summe die metabolische Signallandschaft. Der Körper findet zurück zu einem stabileren biologischen Takt. Das Energielevel wird konstanter, Blutzucker, Insulin und Stresssignale unterliegen weniger Schwankungen.
In den letzten Jahren hat sich die Sicht auf Muskelgewebe radikal verändert: Es gilt heute als endokrines Organ, als Hormonproduzent, der aktiv Stoffwechsel und Immunsystem beeinflusst.
Aktive Muskeln setzen Stoffe frei, die das Gehirn schützen, das Immunsystem stärken und Fettverbrennung fördern. Menschen mit höherer Muskelmasse haben ein deutlich geringeres Risiko für Diabetes, Depression und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Auch die Verbindung zur Langlebigkeit ist eindeutig. Studien zeigen, dass Muskelkraft und Griffstärke bessere Prädiktoren für Lebensdauer sind als Cholesterin oder Gewicht. Muskel ist der wahre Vitalitätsmarker unserer Zeit.
Muskeln stabilisieren den Blutzucker. Sie nehmen Glukose aktiv auf und verhindern Insulinresistenz.
Muskeln regulieren Entzündung. Jede Kontraktion setzt Myokine frei, die systemische Inflammation senken.
Muskeln fördern Hormonbalance. Sie verbessern die Testosteron- und Östrogenwirkung und stützen das Nebennierensystem.
Muskeln verlängern Lebensspanne. Studien zeigen eine direkte Korrelation zwischen Muskelmasse und Überlebenswahrscheinlichkeit im Alter.
Fazit
Stoffwechselgesundheit und Muskelphysiologie gehören zu den stärksten Einflussfaktoren darauf, wie gut wir altern. Muskulatur und Proteinversorgung sind dabei ein Schlüsselduo. Muskeln erzeugen Struktur und Stoffwechselaktivität, Proteine liefern die Bausteine für Reparatur, Anpassung und Signalprozesse. Beide folgen den Grundprinzipien physiologischer Anpassung: Reiz, Reaktion, Regeneration.
Entscheidend ist der wiederholte Wechsel aus Belastungsreiz und Regeneration. Dieser Zyklus fördert die mitochondriale Funktion, stabilisiert hormonelle Regulation und erhält metabolische Flexibilität.
Muskulatur ist somit weniger ein ästhetisches Ziel als ein Indikator für systemische Stoffwechselgesundheit.
Metabolische Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, effizient zwischen Aktivität und Regeneration zu wechseln, zwischen Energieentnahme und physiologischem Wiederaufbau.
In dieser Fähigkeit zum Wechsel – zwischen Aufbau und Regeneration – liegt das biologische Grundprinzip gesunden Alterns.