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3. November 2025
Andrea Gartenbach
Dr. Andrea Gartenbach ist Fachärztin für Innere- und Funktionelle Medizin und Expertin für Longevity. In dieser dreiteiligen Kolumne erklärt sie, wie moderne Longevity-Medizin den Stoffwechsel neu versteht – nicht als einfache Verbrennung, sondern als präzises Zusammenspiel von Licht, Nahrung, Bewegung und Ruhe
Es gibt Menschen, die morgens schon hellwach sind, bevor der Wecker klingelt, während andere selbst nach acht Stunden Schlaf müde bleiben. Manche können den ganzen Tag fokussiert arbeiten, andere brauchen ständig Nachschub: Kaffee, Zucker, neue Impulse. Das hat selten etwas mit Disziplin oder Willenskraft zu tun.
Unser Stoffwechsel besitzt nämlich ein Zeitbewusstsein, eine Art inneren Dirigenten, der vorgibt, wann Energie fließen darf und wann Ruhe nötig ist. Gerät dieser Rhythmus aus dem Gleichgewicht, beginnt alles zu stagnieren: Konzentration, Verdauung, Schlaf, Stimmung. Wir spüren dann, dass etwas nicht stimmt, wissen aber nicht warum. In der Longevity-Medizin gilt genau dieser Punkt als entscheidend. Gesundheit entsteht dort, wo Biochemie und Timing optimal zusammenfinden.
Jede unserer Zellen arbeitet in Zyklen. Sie folgt einer inneren Uhr, die sich am Licht, an der Nahrungsaufnahme und an Bewegung orientiert. Diese Uhr bestimmt, wann Hormone ausgeschüttet, Nährstoffe verarbeitet und Reparaturmechanismen aktiviert werden. Wenn alles harmonisch verläuft, fühlt sich der Tag wie ein fließender Ablauf an: klarer Start, stabile Energie, ruhiger Abend.
Doch in einer Welt aus künstlichem Licht, spätem Essen und digitaler Daueraktivität verliert der Körper seine Orientierung. Die innere Uhr läuft asynchron. Cortisol steigt, wenn wir schlafen sollten. Insulin bleibt aktiv, obwohl keine Mahlzeit folgt. Die Folge sind diffuse Symptome, die viele kennen: unruhiger Schlaf, Heißhunger, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit. Das „Orchester“ spielt zwar noch, aber der "Dirigent" hat sich verabschiedet.
Eine der einfachsten und zugleich wirkungsvollsten Strategien, um diesen „inneren Dirigenten“ neu zu kalibrieren, stammt aus der Forschung von Valter Longo. Sie nennt sich Time Restricted Eating. Das Prinzip ist schlicht: Essen innerhalb eines Zeitfensters von zehn bis zwölf Stunden – also 12–14 Stunden Pause – und danach bewusst nichts mehr.
Diese Pause versetzt den Körper in einen Zustand biochemischer Ordnung: Zellen beginnen, beschädigte Strukturen zu recyceln, Stoffwechselabfälle zu eliminieren und ihre Energiegewinnung auf Fettstoffwechsel und zelluläre Regeneration umzustellen. Schon nach wenigen Tagen können sich Insulinspiegel und Entzündungsmarker regulieren, die Konzentration steigt und der Schlaf verbessert sich. Entscheidend ist hier nicht die Rigidität, sondern die Regelmäßigkeit.
Viele meiner Patientinnen und Patienten berichten, dass sich bereits durch das Weglassen von späten Mahlzeiten ihr gesamtes Wohlbefinden verändert. Hinter dieser einfachen Maßnahme stehen komplexe Mechanismen: Sinkt der nächtliche Insulinspiegel rechtzeitig ab, kann der Körper Wachstumshormone freisetzen, Fettverbrennung und Zellregeneration aktivieren. Der Organismus reagiert erstaunlich schnell, wenn er seinen natürlichen metabolischen Rhythmus zurückerhält.
Licht ist der stärkste Signalgeber für unseren Stoffwechsel. Das erste Sonnenlicht am Morgen synchronisiert die innere Uhr und steuert den Cortisolanstieg, der uns wach macht. Der bessere Wecker ist das Morgenlicht – nicht der Bildschirm. Bewegung wirkt ähnlich strukturierend. Schon 20 Minuten leichte sportliche Aktivität nach dem Aufstehen verbessern die Blutzuckerregulation und stabilisieren die Energie für den Tag. Genauso wichtig ist es, abends rechtzeitig zur Ruhe zu kommen. Dunkelheit oder gedimmtes Licht, kein Smartphone im Bett und kein Essen nach 19 Uhr machen das Einschlafen leichter. Melatonin, unser nächtliches Regenerationshormon, kann nämlich nur ansteigen, wenn Insulin bereits abgesunken ist.
Cortisol wird oft als Stresshormon missverstanden. In Wahrheit ist es ein fein abgestimmtes Regulationssystem, das uns morgens aktiviert und abends beruhigt. Ohne Cortisol könnten wir weder aufstehen noch denken, uns konzentrieren oder körperliche Leistung erbringen. Es ist Teil unserer evolutionären Intelligenz – eine Art biochemischer Taktgeber, der dem Körper signalisiert, wann Aktivität sinnvoll ist und wann Ruhe beginnt.
Ein gesunder Cortisolverlauf ist wie eine Sinuskurve: hoch zum Start des Tages, sanft abfallend in der Nacht. Diese natürliche Tageskurve ist evolutionär verankert und stabilisiert fast alle anderen Hormonsysteme, vom Schilddrüsenstoffwechsel bis zur Glukoseregulation. Problematisch wird Cortisol erst, wenn dieser Rhythmus verloren geht. Chronischer Stress, spätes Arbeiten oder dauerhaftes Multitasking verwandeln die Kurve in ein chaotisches Muster – zu hoch, zu spät, zu lange.
Der Körper bleibt in Alarmbereitschaft, auch wenn keine akute Gefahr mehr besteht. Das Ergebnis sind Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Heißhunger. Menschen, die ihren Alltag strukturieren durch feste Mahlzeiten, kurze Pausen zwischendurch, Licht am Morgen und Ruhe am Abend haben eine deutlich stabilere Stressregulation und können dadurch mehr innere Ruhe entwickeln. Es ist, als würde sich der Stoffwechsel bedanken: Cortisol darf wieder tun, wofür es gedacht ist – Energie bereitstellen, nicht Stress erzeugen.
Der Stoffwechsel liebt Rhythmus und Wiederholung, nicht aus Gewohnheit, sondern weil biochemische Prozesse Stabilität brauchen. Regelmäßige Essenszeiten, konstante Schlafenszeiten und kurze Pausen dienen als Orientierungspunkte für das innere System. Sie verhindern hormonelle Schwankungen, stabilisieren den Blutzucker und harmonisieren die Cortisolregulation. Kleine, wiederkehrende Strukturen schaffen langfristig Energieeffizienz. Der Körper arbeitet ökonomischer, wenn er weiß, was er wann erwarten darf.
In der präventiven Medizin verbinden wir heute molekulare Diagnostik mit Beobachtung und Patienten-Feedback. Biomarker wie Cortisolprofile, Blutzucker oder HRV spiegeln die physiologische Reaktion des Körpers auf innere und äußere Belastungen. Doch genauso wichtig ist die eigene Wahrnehmung: Wie fühle ich mich nach dem Aufstehen? Wann bin ich konzentriert, wann erschöpft?
Diese Fragen sind keine Nebensache. Sie übersetzen Laborwerte in Erfahrung. Metabolische Intelligenz beginnt mit dem Bewusstsein, dass Energie nicht unerschöpflich ist, und darüber hinaus gestaltet werden kann.
Wer Laborwerte mit Körpersignalen in Einklang bringt, betreibt keine Selbstoptimierung, sondern präzise Prävention – die eigentliche Grundlage von Longevity.
In meinen Gesprächen mit Führungskräften oder Leistungssportlern, die lange auf hohem Stressniveau funktionieren, ist das oft der Wendepunkt: zu erkennen, dass Ruhe keine Schwäche ist, sondern eine strategische Ressource. Der Körper folgt einer Ordnung, die sich nicht überlisten lässt. Wer sie respektiert, gewinnt an Kraft, statt sie zu verlieren.
Menschen, die ihren Alltag strukturieren feste Mahlzeiten, kurze Pausen zwischendurch, Licht am Morgen, Ruhe am Abend eine deutlich stabilere Stressregulation und mehr innere Ruhe entwickeln.
Perfektion ist nicht nötig, Kohärenz hingegen unerlässlich. Wer seinen inneren Takt wiederfindet, erlebt Energie als etwas Ruhiges, Verlässliches. Der Stoffwechsel ist dann kein Thema mehr – sondern Teil der Selbstverständlichkeit, mit der man lebt.
Im nächsten Teil dieser Serie geht es um die Rolle von Muskelkraft und Proteinsignalen – und darum, wie Struktur, Nährstoffqualität und Bewegung die Sprache unserer Zellen formen.
Morgens (6–10 Uhr)
Natürliches Licht aktivieren, Wasser trinken, Bewegung einbauen. Cortisol ist hoch, Stoffwechsel aktiv. Ideale Zeit für Fokus und mentale Arbeit.
Mittags (12–14 Uhr)
Verdauung und Insulin auf dem Höhepunkt. Jetzt ist der Körper bereit, Nährstoffe effizient zu nutzen.
Nachmittags (16–18 Uhr)
Leichter Leistungsabfall. Eine kurze Bewegungseinheit oder frische Luft stabilisieren Energie.
Abends (19–22 Uhr)
Letzte Mahlzeit vor 19 Uhr, gedämpftes Licht, Entspannung. Cortisol sinkt, Melatonin steigt.
Nacht (22–6 Uhr)
Zellreparatur, Wachstumshormone, Immunaktivität. Schlaf ist biochemische Regeneration.