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27. Dezember 2025
Dr. Andrea Gartenbach
Dr. Andrea Gartenbach ist Fachärztin für Innere- und Funktionelle Medizin und Expertin für Longevity. Im dritten Teil ihrer Kolumne über den metabolischen Rhythmus erklärt sie, warum Training und Protein oft nicht ausreichen – und was der Stoffwechsel stattdessen braucht, um effizient zu arbeiten
Viele Menschen berichten trotz proteinreicher Ernährung, regelmäßigem Training und insgesamt gesundheitsbewusstem Lebensstil über anhaltende Müdigkeit, stagnierende Trainingserfolge und eine auffallend langsame Erholung nach Belastungen.
Das ist irritierend und führt häufig zu der Annahme, man müsse sich noch mehr anstrengen, konsequenter sein oder härter trainieren. Dabei liegt das Problem oft an ganz anderer Stelle.
Unser Energiehaushalt ist ein hoch entwickeltes Regulationssystem. Seine zentrale Aufgabe besteht darin, Überleben und Leistungsfähigkeit zu sichern. Dafür passt er sich fortlaufend an innere und äußere Reize an – an Bewegung, Nahrungszufuhr, Licht, Schlafmangel oder Stress. Diese Signale werden über hormonelle und nervale Steuermechanismen verarbeitet, insbesondere über das autonome Nervensystem, das unbewusst Herzfrequenz, Stoffwechselaktivität und Energiebereitstellung reguliert.
Vereinfacht gesagt gilt: In Situationen, die Aktivität, Aufmerksamkeit und Energie erfordern, fährt der Körper seine Systeme hoch. Der Energieumsatz steigt, Speicher werden mobilisiert, Wachheit nimmt zu. In Phasen geringerer Anforderungen werden diese Prozesse gedrosselt, um Energie zu sparen und Regeneration zu ermöglichen.
Die grundlegende Logik dieses Reiz-Erkennungs- und Anpassungssystems ist evolutionär sehr alt. In ihren Kernmechanismen unterscheidet sie sich kaum von den Steuerungsprozessen unserer frühen Vorfahren, als Energieverfügbarkeit, Bewegung und Ruhe noch eng an natürliche Umweltbedingungen gekoppelt waren.
Unser heutiger Alltag folgt jedoch anderen Regeln. Statt klarer Reize erleben wir eine dauerhafte Überlagerung kleiner, teils widersprüchlicher Impulse: anhaltende kognitive Aktivierung, häufiges Snacken zwischen den Mahlzeiten, abendliche Lichtexposition durch Fernsehen, Laptop und Smartphone sowie chronischer Stress. Diese Faktoren beeinflussen zentrale Steuergrößen des Stoffwechsels und der Erholung – darunter die Blutzuckerregulation, die Insulinwirkung, Stresshormone wie Cortisol und die nächtliche Ausschüttung von Melatonin, das für Schlafqualität und regenerative Prozesse entscheidend ist.
Jeder dieser Reize für sich genommen bleibt meist unterhalb einer kritischen Schwelle. In ihrer Kombination erzeugen sie jedoch eine anhaltende metabolische Grundaktivierung. Dem Körper wird gleichzeitig signalisiert, leistungsbereit zu sein, Nahrung zu verarbeiten und sich zu erholen – ein biologisch kaum lösbarer Auftrag.
In Teil 2 unserer Metabolismus-Reihe haben wir gesehen, wie zentral Muskulatur, Proteinzufuhr und der insulinähnliche Wachstumsfaktor 1 (IGF-1) für einen stabilen Stoffwechsel sind. IGF-1 unterstützt Wachstum, Reparaturprozesse und den Erhalt von Muskelgewebe. Doch weder Muskeln noch Hormone reagieren auf guten Willen, Disziplin oder Durchhaltevermögen. Sie reagieren ausschließlich auf biologische Signale.
Die Folgen uneindeutiger Signalgebung lassen sich im Labor gut beobachten. Ein Beispiel ist der Cortisolspiegel. Cortisol sollte morgens physiologisch ansteigen, um Wachheit, Energieverfügbarkeit und Stoffwechselaktivierung einzuleiten. Ist dieser Anstieg abgeschwächt oder zeitlich verschoben, deutet das darauf hin, dass der Körper keine klaren Startsignale erhalten hat.
Ein weiteres häufiges Muster: IGF-1-Werte verbleiben trotz ausreichender Proteinzufuhr im unteren Normbereich.
Der Körper ist dabei nicht krank. Er reagiert adaptiv auf eine Vielzahl widersprüchlicher Botschaften.
Versteht man diese Signalmechanik, wird deutlich, was der Stoffwechsel auch unter modernen Bedingungen nach wie vor benötigt: Eindeutigkeit.
Einen verlässlichen zeitlichen Rhythmus, der die circadiane Steuerung von Hormonen, Stoffwechselaktivität und Schlaf-Wach-Zyklen unterstützt. Ausreichenden Abstand zwischen den Mahlzeiten. Ruhige Abendstunden, die dem Nervensystem den Übergang von Aktivierung zu Erholung signalisieren. Schlaf, der möglichst frei von nächtlicher Lichtexposition und digitalen Reizen ist. Und ein niedriges Entzündungsniveau, das es den Mitochondrien erlaubt, Energie effizient zu produzieren, statt Ressourcen überwiegend in Stress- und Abwehrprozesse zu lenken.
Diese Faktoren wirken nicht isoliert, sondern greifen ineinander. Schlaf beeinflusst Entzündungsprozesse, Entzündung verändert hormonelle Abläufe, hormonelle Dysbalancen erschweren Regeneration und Leistungsfähigkeit. Umgekehrt gilt: Wird das System an einer Stelle entlastet, profitiert das Ganze.
Diese Voraussetzungen mögen unspektakulär erscheinen. Sie sind jedoch entscheidend dafür, dass die biologischen Prozesse aus Teil 2 überhaupt greifen können. Ein stabiler Morgenrhythmus unterstützt die physiologische Cortisoldynamik und schafft die Grundlage für Stoffwechselflexibilität. Längere Pausen zwischen den Mahlzeiten erleichtern die Fettverbrennung und verbessern die Nutzung des aufgenommenen Proteins. Ein entzündungsarmer Stoffwechsel gibt IGF-1 den Raum, seine Rolle als Wachstums- und Reparatursignal zu erfüllen. Und erholsamer Nachtschlaf schafft die Bedingungen, die Mitochondrien für Wartung, Reparatur und effiziente Energieproduktion benötigen.
Diese Veränderungen wirken systemisch. Sobald die biologische Signalgebung wieder eindeutig ist, beginnt der Stoffwechsel effizient zu arbeiten. Kleine Ursachen können große Wirkungen entfalten – weil Biologie grundsätzlich ökonomisch organisiert ist.
Für einen gut funktionierenden Stoffwechsel müssen wir daher nicht härter trainieren oder disziplinierter werden. Entscheidend ist, ob unser Körper klare und verlässliche Signale erhält. Erst wenn Rhythmus, Erholung und metabolische Entlastung wieder zusammenspielen, kann der Stoffwechsel seine eigentliche Aufgabe erfüllen: Energie effizient bereitzustellen, statt permanent zu kompensieren.
Die drei Teile dieser Reihe erzählen letztlich eine zusammenhängende Geschichte: Nicht darüber, wie man den Stoffwechsel „optimiert“, sondern darüber, warum er heute so oft kompensieren muss. In Teil 1 ging es um die veränderten Bedingungen unseres modernen Lebens, die biologische Systeme dauerhaft unter Spannung setzen. Teil 2 zeigte, wie zentral Muskulatur, Proteinverwertung und IGF-1 für Stabilität, Anpassung und Regeneration sind. Und Teil 3 machte deutlich, warum all das nur dann wirkt, wenn der Körper klare, verlässliche Signale erhält.
Der rote Faden ist einfach und zugleich unbequem: Der Stoffwechsel scheitert nicht an mangelnder Disziplin oder falschen Entscheidungen. Er reagiert auf ein Umfeld, das biologisch widersprüchlich geworden ist. Dauerhafte Aktivierung ohne echte Pausen, Energiezufuhr ohne Rhythmus, Erholung ohne Dunkelheit – all das zwingt den Körper in einen Modus, in dem er schützt, statt aufzubauen.
Moderne metabolische Gesundheit beginnt daher nicht mit mehr Anstrengung, sondern mit mehr Präzision. Mit dem Verständnis dafür, dass Biologie auf Klarheit reagiert , nicht auf Perfektion. Wenn wir lernen, Belastung und Erholung wieder eindeutig zu trennen, Mahlzeiten wieder als Signal statt als Dauerzustand zu begreifen und Schlaf als aktiven Reparaturprozess ernst zu nehmen, richtet sich das System neu aus. Nicht abrupt, nicht spektakulär, aber zuverlässig.
Vielleicht liegt genau darin der wichtigste Perspektivenwechsel: Der Stoffwechsel ist kein Problem, das gelöst werden muss. Er ist ein intelligentes System, das verstanden werden will. Und je besser wir seine Sprache sprechen, desto weniger müssen wir gegen ihn arbeiten und desto mehr kann er für uns tun.
Der Stoffwechsel ist kein System, das optimiert werden will – sondern eines, das verstanden werden muss.
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