Wie man eine Suchterkrankung erkennt und behandelt

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27. August 2025

Margit Hiebl

  • Health
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Wie man eine Suchterkrankung erkennt und behandelt

Die Entwicklung einer Sucht verläuft oft schleichend. Eine Expertin erklärt die Ursachen und Anzeichen einer Suchterkrankung und wie man sie heilen kann

Erst ist es nur das Glas Wein oder das Feierabendbier, das für Entspannung sorgen soll. Der Joint, der den Spaßfaktor steigert. Oder die Schlaftablette, die das nächtliche Gedankenkarussell zum Stoppen bringt. Doch nach und nach können aus den noch so harmlosen kleinen Verführungen gefährliche Gewohnheiten entstehen.

"Am Anfang einer Sucht stehen häufig die Neugier, der Gruppenzwang oder der Wunsch, bestimmte Emotionen oder Stress abzubauen“, so PD Dr. Eva Döring-Brandl, MBA, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Alexianer Krankenhaus Hedwigshöhe in Berlin. Dabei gibt es meist noch keine deutlich erkennbaren negativen Konsequenzen.

Doch im weiteren Verlauf, wenn das abendliche Glas Wein zum festen Entspannungsritual wird, entwickelt sich ein Gewohnheitskonsum. Zur Sucht wird es erst, wenn die Menge steigt und der Konsum mit Kontrollverlust oder anderen negativen Folgen einhergeht.

Rund neun Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in einer problematischen Form

„Daraus entwickelt sich die eigentliche Abhängigkeit – sowohl psychisch als auch physisch“, so die Expertin für Suchtverhalten. „Dieser Prozess ist sehr heterogen, verläuft oft schleichend und über Jahre bis Jahrzehnte, was es in vielen Fällen so schwer macht, die Entwicklung einer Sucht zu bemerken.“

Rund neun Millionen Menschen in Deutschland konsumieren laut „Jahrbuch der Sucht 2025“ Alkohol in einer problematischen Form. Der zweithäufigste Anlass für den Zugang zu Suchthilfeangeboten sind cannabinoidbezogene Störungen.

Warum Menschen in die Sucht geraten, kann verschiedenste Gründe haben. Die biologische Ebene ist dabei ebenso wichtig wie die psychische. Zunächst steckt, wie bei jedem Verlangen, das klassische Belohnungssystem im Gehirn dahinter. Eine Schlüsselrolle kommt hier dem Dopamin zu: Der Neurotransmitter motiviert uns, immer wieder nach Reizen zu suchen, die uns ein gutes Gefühl geben. In diesem Fall eine der genannten Substanzen.

Und wenn wir damit das nächste Mal in Kontakt kommen, wird dies sozusagen vom Dopamin geliked und positiv abgespeichert. Der Grundstein zu einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems ist gelegt. Irgendwann beginnt der Kick nachzulassen: Was anfangs aufregend und spannend war, verliert seine Wirkung.

Statt der ursprünglich erlebten Erregung gibt es nur noch das Verlangen nach der nächsten Dosis – um das Belohnungsdefizit zu kompensieren. Je öfter dieser Prozess wiederholt wird, desto stärker wird das Bedürfnis, es erneut zu tun. So wird der Substanzkonsum mehr und mehr zum Mittel, um mit verschiedenen Lebenslagen und Gemütszuständen umzugehen.

Es gibt kein explizites „Sucht-Gen“, sondern ein Zusammenspiel mehrerer genetischer Risikofaktoren

Gilt das als Willensschwäche? „Nein“, sagt Dr. Döring-Brandl. Auch ein explizites „Sucht-Gen“ gäbe es nicht, vielmehr ein Zusammenspiel mehrerer genetischer Risikofaktoren – wie bei den meisten psychischen Erkrankungen. Süchtige haben häufig gleichzeitig noch andere psychische Erkrankungen, wie etwa Persönlichkeitsstörungen, affektive Störungen, psychotische Erkrankungen oder ADHS. „Mindestens die Hälfte der Menschen mit einer Suchterkrankung hat noch eine oder mehrere weitere psychische Erkrankungen“, so Dr. Döring-Brandl.

Doch auch individuelle Risikofaktoren spielen eine Rolle, wenn etwa jemand aus einer Familie kommt, in der bereits Suchtprobleme existieren. Studien belegen, dass das Risiko von Kindern eine solche Erkrankung zu entwickeln, deutlich erhöht ist. „Ungefähr ein Drittel der Kinder von Alkoholabhängigen wird später selbst davon abhängig“, sagt Dr. Döring-Brandl. Doch nicht nur die Veränderungen von Botenstoffen im Gehirn, auch Lernprozesse und verschiedene äußere Einflüsse, etwa das soziale Umfeld und persönliche Erfahrungen spielen hier eine Rolle.

Grundsätzlich kann jeder Mensch eine Sucht entwickeln, so die Expertin. Mit kleinen Unterschieden: Männer beginnen früher und zeigen häufig riskantere Konsummuster, wie harte Alkoholika oder Drogen wie Heroin und Kokain – vielleicht auch um männliche Stereotypen zu bedienen. Frauen und Mädchen tendieren zu „gesellschaftsfähigeren“ Substanzen wie Schmerz- und Beruhigungsmitteln, leichten Alkoholika wie Sekt oder Alkopops, Cannabis oder Medikamenten, die Körper und Gewicht beeinflussen.

Die Wahrscheinlichkeit, eine psychische und physische Abhängigkeit von Opiaten zu entwickeln, ist deutlich höher als bei Alkohol

Gleichzeitig haben Frauen eine deutlich niedrigere Toleranz, zum Beispiel für Alkohol, und können schneller eine Abhängigkeit entwickeln. Doch das Suchtpotenzial hängt auch von der konsumierten Substanz ab. Die Wahrscheinlichkeit, eine psychische und physische Abhängigkeit von Opiaten zu entwickeln, ist deutlich höher als bei Alkohol.

Längst sind es nicht mehr nur biologische oder chemische Substanzen, die als süchtig machend gelten. Soziale Netzwerke, Glücksspiel, Binge-Watching, Shopping-Portale, Video-Streaming, Sex und sogar Sport können dieselbe psychologische Dynamik auslösen wie die Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol.

Zu den Top Drei zählen hier Computerspiele, Onlinepornografie und soziale Netzwerke. Bei diesen sogenannten Verhaltenssüchten handelt es sich um Muster, die das Belohnungssystem im Gehirn ebenso aktivieren – jedoch ohne körperliche Abhängigkeit. „Stoffgebundene Süchte gehen meist mit einer körperlichen Abhängigkeit einher, was zu einer erhöhten Toleranz gegenüber der Substanz und zu körperlichen Entzugserscheinungen führt“, erklärt Dr. Eva Döring-Brandl.

„Während es vielen Menschen mit stoffgebundenen Süchten eher darum geht, bestimmte Emotionen zu dämpfen oder hervorzurufen, ist bei Verhaltenssüchten eine Flucht aus der Realität häufig ausgeprägter.“ Die sozialen Auswirkungen können jedoch ebenso gravierend sein – Verlust von Beziehungen, Job und sozialem Status sind auch hier nicht selten. Besonders problematisch: Sie sind noch schwieriger zu identifizieren, weil der tatsächliche Konsum von den Betroffenen gut kaschiert werden kann.

„Oft ist es das Umfeld, das zuerst bemerkt, dass jemand ein Problem hat“, sagt Dr. Döring-Brandl. „Die Betroffenen selbst erkennen die Sucht nicht sofort.“ Alles wird erst einmal abgetan oder geleugnet. Und tatsächlich ist es, wie schon erwähnt, oft ein schleichender Prozess. Einige Merkmale, die einen selbst oder andere stutzig machen sollten, gibt es aber dennoch.

Oft ist es das Umfeld, das zuerst bemerkt, dass jemand ein Problem hat

Dr. Döring-Brandl


Dazu gehört das sogenannte Craving, ein starkes Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten. Ein weiteres Symptom ist die Toleranzentwicklung: Man braucht immer mehr oder höhere Dosen, um das Verlangen zu stillen. Außerdem: das Auftreten von Entzugserscheinungen, wie Unruhe, Schweißausbrüche, Zittern bis hin zu Krampfanfällen.

Alkoholsucht: Von riskantem Konsum spricht man beispielsweise bei mehr als 12 Gramm (bei Frauen) beziehungsweise 24 Gramm (bei Männern) pro Tag

Auch Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit sind ein Indiz. Schließlich der Kontrollverlust, sodass selbst, wenn deutliche negative gesundheitliche Folgen zu erkennen sind, der Konsum fortgesetzt wird. Hinzu kommt die Ver-nachlässigung von privaten und beruflichen Pflichten – der Sucht wird immer mehr Vorrang gegeben. Damit verbunden: sozialer Rückzug sowie Probleme in der Partnerschaft, der Familie oder mit Freunden.

Von sogenanntem riskantem Konsum spricht man beispielsweise bei Alkohol von mehr als 12 Gramm (bei Frauen) beziehungsweise 24 Gramm (bei Männern) pro Tag; von pro-blematischem Konsum, wenn innerhalb von 12 Monaten mindestens drei der oben genannten Kriterien erfüllt sind.

Wie sollten Familie, Freunde oder Kollegen reagieren, wenn sich Verdachtsmomente häufen? Oft reagieren Angehörige oder Nahestehende von Süchtigen ähnlich wie diese – mit Verleugnen, Verdrängen und auch Wegschauen. „Wichtig ist, das beobachtete Problem anzusprechen, selbst wenn dies erst einmal zu Streit, Leugnung oder gar einem Kontaktabbruch führen kann“, rät die Psychiaterin.

Doch auch dann sollte immer wieder das Gespräch gesucht und der/die Suchtkranke motiviert werden, eine Beratungsstelle aufzusuchen oder gemeinsam Termine wahrzunehmen. Weil diese Situation das direkte Umfeld mit hineinzieht und sehr belasten kann, sollte auch hier professionelle Hilfe zur Unterstützung in Anspruch genommen werden – viele Suchtberatungsstellen und Kliniken bieten gezielte Angebote für Angehörige an.

„Den einen klassischen Weg aus der Sucht gibt es nicht“, erklärt Dr. Döring-Brandl. „Die Therapie hängt von der Substanz oder dem Verhalten ab und muss individuell angepasst werden.“ Grundsätzlich gehört aber, insbesondere bei stoffgebundenen Süchten, eine körperliche Entzugsbehandlung dazu. „Dabei wird der Suchtstoff ersetzt oder in absteigenden Dosen kontrolliert verabreicht.“ So erfolgt eine schrittweise Entgiftung, in der Regel im vollstationären Umfeld einer Klinik. Doch nicht nur die körperliche, auch die psychische Abhängigkeit kann sehr stark ausgeprägt sein und sich körperlich äußern, etwa durch Unruhe, Schlafstörungen und Reizbarkeit. „Eine längere Entwöhnungsbehandlung ist daher sinnvoll, in der man zudem Strategien im Um-gang mit der Sucht erlernt“, so die Expertin. „Im Anschluss ist der Besuch von Suchtberatungsstellen und Selbsthilfe-gruppen ein wichtiger Baustein, um abstinent zu bleiben.“ In vielen Fällen, gerade auch bei Jugendlichen, werden auch familientherapeutische Interventionen empfohlen.

Den einen, klassischen Weg aus der Sucht gibt es nicht

Selbst wenn völlige Abstinenz nicht immer zu erreichen ist, kann zumindest eine Reduzierung der Konsummenge oder eine niedrigere Häufigkeit von Rückfällen ein Behandlungsziel sein. Das gilt ebenso für Verhaltenssüchte, für die es nicht so viele Anlaufstellen gibt wie eigentlich nötig wären. Als relevanter Therapieweg bei Internetsucht gelten Kombinationstherapien aus klassischer Psychotherapie und ver-schiedenen additiven Ansätzen wie achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Verfahren, aber auch Verfahren der nicht-invasiven Hirnstimulation und Biofeedback-Verfahren.

Rückfälle gibt es immer wieder. Diese haben weniger mit „positiver Verführung“ zu tun als mit einem ausgeprägten, zumeist sehr quälend erlebten Bedürfnis nach Konsum der Substanz, von der eine Abhängigkeit besteht – oft „Suchtdruck“ genannt. In einer Krisensituation etwa wissen sich die Betroffenen dann nicht anders zu helfen, als dem extrem starken Bedürfnis, etwa nach Alkohol, nachzugeben. Um die Betroffenen vor Rückfällen zu schützen oder den Rückfall möglichst schnell zu unterbrechen, werden vorsorglich in der Entzugsbehandlung Krisenpläne erarbeitet. Häufig klappt das nur mit erneuter stationärer Aufnahme oder mit anderer professioneller Hilfe.

Was uns verführt, ist also oft nicht das, was uns langfristig glücklich macht. Aber die Liste der Dinge, die unser Belohnungssystem mit weniger Risiko aktivieren, ist glücklicherweise lang. Und darin liegt auch eine Chance – für alle jene, die ihrer Sucht entkommen wollen.