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8. September 2025
Sharon Burbat
Schieben Sie trotz Müdigkeit das Zubettgehen hinaus? Dann sind eventuell auch Sie ein Schlaf-Prokrastinierer. Wir erklären, was die Psychologie hinter dem Phänomen ist
Bei dem Begriff “Revenge Bedtime Procrastination” handelt es sich um ein Phänomen, bei dem man nicht zur vorgesehenen Zeit ins Bett geht, obwohl es keine äußeren Umstände gibt, die dies verhindern würden. Genauer: Wir sind erschöpft und wissen auch, dass ausreichend Schlaf wichtig für die Gesundheit ist, zögern das Zubettgehen aber bewusst hinaus – um sich Aktivitäten wie Social Media, das Schauen von Serien oder das Browsen durch Online-Shops zu widmen.
Der Begriff stammt ursprünglich aus China („bàofùxìng áoyè“) und beschreibt eine Art Rebellion gegen einen überfüllten Alltag. Vor allem bei Menschen, die tagsüber kaum Zeit für sich selbst haben.
Warum aber opfern wir erholsamen Schlaf für so bedeutungslose Tätigkeiten wie dem Anschauen von Instagram-Reels in Endlosschleife? Es ist das Gefühl von Autonomie-Verlust. Wer tagsüber nur Verpflichtungen nachgeht (ob im Job oder der Familie), will sich am Abend – oder der Nacht – ein Stück seiner Selbstbestimmung zurückholen. Man könnte es als “stillen Protest” bezeichnen: Man will die am Tag verlorene Zeit zurückerobern und Kontrolle über den eigenen Alltag erleben, sich Zeit für sich selbst nehmen, auch wenn man weiß, dass es unvernünftig ist und auf diese Art “Rache nehmen”.
2014 zeigte eine Studie, dass geringere Selbstregulation deutlich mit einer höheren “Bedtime Procrastination” korreliert – auch über allgemeine Prokrastination hinaus. Die Ergebnisse einer weiteren Studie aus dem Jahr 2018 zeigten, dass Personen, die tagsüber vielen Versuchungen widerstehen mussten, eher dazu neigten, das Zubettgehen hinauszuzögern, was darauf hindeutet, dass Menschen nach einem besonders anstrengenden Tag weniger erfolgreich darin sind, sich an ihre geplante Schlafenszeit zu halten.
Ob es wegen Revenge Bedtime Procrastination oder anderen Gründen zu chronischem Schlafmangel kommt – die negativen Folgen auf Körper und Psyche sind meist ähnlich:
Wer sich beim Lesen der typischen Merkmale der Schlaf-Prokrastination wiedererkannt hat, kann jetzt aufatmen, denn gegen den ungesunden Schlafaufschub kann man etwas tun. Es geht vor allem darum, eine funktionierende Routine für sich zu finden und bewusster mit seiner Zeit umzugehen.
2020 wurde untersucht, wie sich MCII – “Mentales Kontrastieren mit Wenn-dann-Plänen” – auf die Revenge Bedtime Procrastination auswirkt. MCII ist eine wissenschaftlich fundierte Selbstregulationstechnik, die zwei psychologische Strategien kombiniert: Mentales Kontrastieren (Mental Contrasting) und Implementierungsintentionen (Implementation Intentions). Beim Mental Contrasting stellt man sich zuerst ein Ziel und die positiven Konsequenzen vor (beispielsweise “Ich möchte früher schlafen, um morgen fitter zu sein”) und danach bewusst die Hindernisse, die einen davon abhalten könnten (“Ich kann nich aufhören, meine Serie zu schauen”).
Es geht hierbei um eine realistische Einschätzung der eigenen Motivation und Hürden. Bei den Implementation Intentions geht es um konkrete “Wenn-dann”-Pläne, mit denen man sein Verhalten gezielt steuert. Als Beispiel: “Wenn ich um 23 Uhr noch am Smartphone bin, lege ich es ins Nebenzimmer und putze Zähne.” Hierbei geht es um eine Automatisierung positiver Verhaltensweisen in Schlüsselmomenten.
Das Ergebnis der Studie war, dass sich bei den Probanden, die das Verfahren anwandten, die nächtlichen Prokrastinationsminuten im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich reduzierten. Die Technik hilft dabei, Ziele klar zu formulieren, innere Hürden zu erkennen und konkrete Handlungen im richtigen Moment auszuführen. Sie wurde in zahlreichen weiteren Studien erprobt und zeigt außerdem auch bei allgemeiner Prokrastination, Stressmanagement, Schlaf, Ernährung und Bewegung deutliche Wirkung.
Wenn Sie es alleine nicht schaffen, das Verhalten zu ändern oder bereits negative Auswirkungen auf Körper und Geist sichtbar sind, Sie unter Depressionen und Angstzuständen leiden, ist es ratsam, professionelle Unterstützung zu suchen. Schlafmediziner und Psychotherapeuten können die wahre Ursache für die Schlafprobleme klären und dabei helfen, individuelle Lösungen zu entwickeln.
Fazit: Selbstbestimmung sollte nicht auf die Nacht aufgeschoben werden
Revenge Bedtime Procrastination ist ein weit verbreitetes, oft unterschätztes Problem moderner Lebensführung und zeigt, wie sehr unser Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestimmung mit gesunder Schlafhygiene konkurrieren kann. Wer lernt, sich selbst auch tagsüber Momente der Ruhe zu schaffen, muss abends nicht “Rache nehmen” und sie sich so zu Lasten wertvollen Schlafs „zurückholen“. Echte Selbstfürsorge bedeutet nämlich nicht ein Serienmarathon um Mitternacht, sondern rechtzeitig „Gute Nacht“ zu sagen.