Krebsforscherin Hanna Heikenwälder: "Krebs ist besiegbar"

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3. Juni 2025

Christine Bürg

  • Health

Krebsforscherin Hanna Heikenwälder: "Krebs ist besiegbar"

Molekularbiologin Hanna Heikenwälder erklärt im Interview, mit welchen Präventionsmaßnahmen man sich vor Krebs schützen kann und wie KI dabei hilft

50 bis 70 % aller Krebserkrankungen könnten verhindert werden, wenn der aktuelle Wissensstand der Forschung richtig umgesetzt würde, schreibt Dr. Hanna Heikenwälder in ihrem neuesten Buch „Krebs – Das Ende einer Angst“. Und damit nicht genug. Die Molekularbiologin, die zu Krebs und Altern an der Universität Tübingen forscht, ist überzeugt davon, dass sich jeder vor einer Erkrankung schützen kann: durch Prävention und den eigenen Lifestyle. In unserem Interview spricht sie darüber, wie wir künftig krebsfrei leben können und welche Rolle KI und die personalisierte Medizin dabei spielen.

Bisher galt Krebs als unbesiegbare Krankheit. In Ihrem Buch machen Sie uns allen Hoffnung, dass in Zukunft niemand mehr daran sterben muss.

Genau. Es geht darum, dass niemand mehr daran sterben muss. Krebs aus der Welt zu schaffen ist dagegen unmöglich, weil Mutationen und somit DNA- Veränderungen ständig im Köper passieren. Oberstes Ziel ist es zu verhindern, dass Menschen Qualen leiden oder an Krebs sterben müssen.


Lange Zeit waren wir dieser unglaublichen Komplexität von Krebserkrankungen nicht gewachsen, rannten mit unseren Therapien immer hinterher und die Tumore, gerade die Fortgeschrittenen, sind immer weiter mutiert. Durch Machine-Learning-Algorithmen und KI sind wir dieser Komplexität jetzt gewachsen. Es ist eine Frage der Zeit, wie schnell wir dieses Wissen umsetzen können. Und dafür brauchen wir auch die Hilfe der Politik und der gesamten Gesellschaft.

Krebs ist keine Krankheit, sondern ein Prozess. Was genau meinen Sie mit dieser Aussage?

Mir ist bewusst, dass diese Aussage sehr provokant ist. Vor allem für Menschen, die an Krebs erkrankt sind und leiden. Aber sie ist wichtig, um Krebs zu verhindern. Eine Krankheit hat immer etwas Willkürliches. Das Wort Prozess trifft es viel besser, weil Krebs wie das Altern in jedem Menschen und in jedem Lebewesen abläuft. Also auch bei Fischen oder Pflanzen. Wenn man sich klarmacht, dass Krebs eine Frage des Wann und Wo ist als eine Frage des Ob, dann bekommen Präventionsmaßnahmen einen ganz anderen Wert in unserer Gesellschaft.


Hanna Heikenwälder

© André Leisner

Dr. Hanna Heikenwälder studierte Molekularbiologie in Lübeck und den USA bevor sie an der TU München zu den Zusammenhängen zwischen Entzündungen und Krebsentstehung im Darm promovierte. Derzeit forscht sie zu Krebs und Altern an der Universität Tübingen.


Nur etwa 5 bis 10 % aller Krebserkrankungen entstehen durch angeborene Gendefekte, die restlichen 90 bis 95 % durch genetische Veränderungen, die wir im Laufe unseres Lebens erwerben. Wodurch werden diese hervorgerufen?

Um diese ganzen Sicherheits- und Schutzmechanismen unseres Körpers außer Kraft zu setzen, braucht es ungefähr fünf genetische Veränderungen in einer Zelle, damit diese zu einer bösartigen Krebszelle mutiert. Im Großteil der Fälle sammeln wir all diese genetischen Veränderungen erst im Laufe des Lebens an, da spielen natürlich auch Karzinogene eine Rolle. Rauchen, UV-Strahlung oder Alkohol beispielsweise.

Was viele nicht wissen ist, dass es noch eine zweite Sorte von Krebs-Verursachern gibt, sogenannte Krebsförderer. Diese verhindern, dass genetisch geschädigte Zellen absterben, was sie normalerweise tun, oder sie fördern das Wachstum dieser Zellen. Und diese Krebsförderer sind viel schwerer zu erkennen. Das kann Bewegungsmangel sein, weil es dem Immunsystem schadet, Ernährung oder ein veränderter Zuckerhaushalt.

Vor Krebsförderern kann man sich durch Prävention schützen. Man muss z.B. Jahrzehnte rauchen, bis man Lungenkrebs bekommt. Man muss jahrzehntelang in der Sonne baden, damit Hautkrebs entsteht. Aber Krebsförderer, die wirken dauerhaft auf alle Zellen ein, die einen genetischen Schaden haben, egal ob der angeboren ist, ob das durch meinen Lifestyle oder ungesunde Angewohnheiten verursacht wurde. Oder ob es wie im Großteil der Fälle einfach ganz spontan und von alleine entstanden ist.


Das heißt, jeder trägt Krebs-Vorstufen in sich, die aber nicht zwangsläufig in Krebszellen mutieren. Was kann jeder Einzelne tun, um sich davor zu schützen?

Krebserkrankungen haben eine unglaublich hohe Dunkelziffer. Rund 5 % der Männer um die 30 haben bereits Vorstufen von Prostatakrebs, ab 69 Jahren sind es fast 60 %. Beim Darm sind es die Polypen. Von denen wird nur ein geringer Anteil bösartig, etwa 11 bis 15 %. Tatsache ist, dass Krebs aus normalen Körperzellen hervorgeht und jede Krebserkrankung ein Stadium hat, in der sie gutartig und gut behandelbar ist. Wartet man jedoch zu lange, geht es in ein bösartiges Stadium über, indem sie extrem schwierig oder gar nicht mehr zu behandeln ist.

Wichtig ist, dass wir die bösartigen von den gutartigen Vorläuferstufen erkennen. Dabei hilft uns in Zukunft die KI. Hautkrebs beispielsweise erkennt die KI inzwischen besser als der Hautarzt. Mammographie-Bilder kann ich in eine Datenbank einspeisen, zusammen mit anderen Parametern wie Blut etc. und den Verlauf sehen.

Würde man das ab sofort überall einsetzen, könnten wir mit unseren technischen Möglichkeiten innerhalb kürzester Zeit unglaublich aussagekräftige Algorithmen schaffen, die uns sagen könnten: Dieser Tumor wird bösartig oder dieser ist gutartig. Das sind Informationen und Muster, die die KI erkennt und die wir mit dem menschlichen Augen nicht erkennen könnten.

Wir haben in Tübingen eines der größten Forschungszentren für KI in Europa. Wir haben also die Möglichkeiten und müssen nicht darauf warten, dass diese Innovationen aus anderen Ländern kommen. Wir sind dafür verantwortlich, diese zu generieren. Wir müssen Krebs erkennen und leidvolle Therapien verhindern.

Spannend ist auch die Aussage, dass Altern ein Schutzmechanismus vor Krebs ist. Was bedeutet das?

Wenn man sich die Verteilung von Krebserkrankungen ansieht, wird deutlich, dass sie im Laufe des Lebens nach oben gehen und etwa mit 70, 80 Jahren den Höhepunkt erreichen. Man könnte also meinen, Krebs ist eine klassische Alterserkrankung. Was stimmt, aber auch umgekehrt zutrifft. Tatsächlich ist Altern eine Folge von bzw. ein evolutionärer Schutzmechanismus vor Krebs.

Die Tatsache, dass unsere Zellen nicht ewig leben und nur ein begrenztes Teilungspotenzial besitzen (sie hören nach circa 50 Teilungen auf zu wachsen) ist ein genialer Mechanismus der Evolution. Sind die Zell-Schutzkappen, die Telomere aufgebraucht, dann liegt der DNA-Strang offen, es handelt sich um einen schweren DNA-Schaden. Die betroffenen Zellen sterben nicht ab, sondern hören auf zu wachsen. Man spricht von seneszenten Zellen.

Wenn wir jung sind, haben wir noch ein viertes Immunsystem. Das erkennt und eliminiert diese Zellen. Das Immunsystem schützt uns also nicht nur vor Bakterien oder Viren, sondern spielt auch eine ganz wichtige Rolle bei der Erkennung und Eliminierung von Krebszellen. Das Wunder der Spontanheilung, auf die wir immer hoffen, passiert tatsächlich täglich tausendfach in unserem Körper, allerdings ohne dass wir es mitbekommen.

Das Problem im Alter ist aber nicht nur, dass wir viele genetische Veränderungen angesammelt haben, sondern dass eines der ersten Organsysteme, das altert das Immunsystem ist. Und das ist das Fatale. Die Menge der gealterten oder geschädigten Zellen nimmt zu, gleichzeitig lässt die Immunfunktion nach.


Buchcover Krebs Das Ende der Angst

Dr. Hanna Heikenwälder erklärt in ihrem Buch unter anderem, weshalb wir verstehen müssen, wie Krebs entsteht, um seinen Ausbruch zu verhindern und welche kleinen Veränderungen im Lebensstil großartige Wirkungen gegen Krebs zeigen

Um Krebs zu bekämpfen, braucht es eine personalisierte Medizin. Was genau versteht man darunter?

Im Englischen spricht man auch von Precision Medicine, also von Präzisionsmedizin, was soviel heißt wie zielgenau. Im Moment wird eine Krebstherapie nach Tumorart entschieden, also z.B. Darm oder Brustkrebs. Meist eine Standardtherapie, obwohl man oft vorher weiß, dass sie nur bei 40 % der Patienten anschlägt. Wenn sie nicht wirkt, nimmt man die nächste. Mit unseren heutigen Möglichkeiten der Gensequenzierung und der Proteomik (Erforschung der Proteine), könnte man Vorhersagen treffen, ob diese Therapie wirkt oder nicht.

Dafür brauchen wir die KI, weil die Datenmenge viel zu groß ist, als dass wir sie verarbeiten könnten. Krebs ist eine häufige Erkrankung, aber jeder Tumor trägt andere genetische Veränderungen und jeder Mensch bringt andere genetische Veranlagungen mit, hat ein anderes Immunsystem, reagiert anders auf Medikamente, was auch von den Mikroben im Darm abhängt.

All dieses Wissen müssen wir in die Therapieentscheidung mit einbeziehen. Was in einem Zentrum für personalisierte Medizin der Fall ist, deren Herzstück das molekulare Tumorboard aus interdisziplinären Experten ist – Genetiker, Bioinformatiker, Pathologen, Chirurgen – die mithilfe der Daten aus den Machine Learning Algorithmen die ideale Therapie Entscheidung treffen.

Wir können aber nicht nur gezielter Patienten behandeln, sondern neues Wissen sammeln und daraus neue Medikamente ableiten und eine Immuntherapie maßschneidern. Was mit der personalisierten Medizin einhergeht, wird unseren Fortschritt bei der Krebstherapie exponentiell beschleunigen, weil wir dieser Komplexität gewachsen sind. Wir können anhand dieser Daten Resistenzen vorwegnehmen. Jetzt geht es eigentlich nur noch an die Umsetzung.


Was ist Ihrer Meinung nach wichtig und notwendig, damit Ihre Vision Realität wird und niemand mehr an Krebs sterben muss?

Aufklärung ist sehr wichtig, denn wir brauchen die Gesellschaft und die Politik für die Umsetzung. Ich bin dafür, dass Prävention so früh wie möglich beginnt, bereits im Kindesalter. Die Schulen sind der ideale Ort, weil alle Kinder in die Schule gehen. Und es ist auch der ideale Zeitpunkt, um den Kindern Routinen beizubringen, die sie später ins Leben mitnehmen können – wie Zähneputzen.

Eine tägliche Sportroutine zum Beispiel ist nicht nur gut in Hinsicht auf Krebsprävention, sondern hilft auch beim Stressabbau. Es ist stimmungsaufhellend und gut fürs Gehirn, es verbessert die Konzentration und die Leistungsfähigkeit. Sport hat so viele Vorteile. Er schützt vor mehr als 35 chronischen Krankheiten.

Die WHO sagt, Kinder im schulfähigen Alter sollten eine Stunde Sport am Tag machen. Warum passiert das nicht in den Schulen? Ich denke, es bräuchte einen Anreiz, eine Auszeichnung für aktive Schulen, für zuckerfreie Schulen in Form einer Förderung zum Beispiel. Ein tolles Konzept sind für mich auch Schulkrankenschwestern. Sie machen personalisierte Prävention auf kleiner Ebene.

Oft kann man schon im Kindesalter erkennen, wer die Patienten der Zukunft sind oder wer mehr Anleitung braucht. Auch ein Schulfach Gesundheit, in dem Kinder lernen, was gesundes Essen ist, wie das Immunsystem funktioniert, was eine Impfung ist. Aber auch: Wo finde ich Hilfe? Wo gehe ich hin, wenn es mir seelisch nicht gut geht? Wohin, wenn es mir körperlich nicht gut geht? Über ein wöchentliches Schulfach Gesundheit haben wir in Baden-Württemberg bereits mit dem Ministerium gesprochen.

Stichwort Lifestyle Maßnahmen, die vor Krebs schützen. Welche sind besonders wichtig?

Das niedrigste Krebsrisiko und die niedrigste Gesamtsterblichkeit hat man bei einem normalen BMI. In Bezug auf das Krebsrisiko sollte der sogar im unteren Bereich liegen. Es gibt sehr große Studien mit 2 Millionen Never smokers, also Leuten, die nie geraucht haben. Da sieht man eindeutig, dass Übergewicht das Krebsrisiko erhöht.

Erst ab einem Alter von 80 Jahren flacht sich dieser Effekt ab. Aber das liegt dann nicht etwa daran, dass Übergewicht plötzlich schützt, sondern dass krankhafte Prozesse im Alter zunehmen und sich dadurch der Effekt des Körpergewichts verwischt.


Ein niedriges Körpergewicht ist also wichtig, ebenso wie Essenspausen, vor allem nachts. Die Regel, dass man morgens essen soll wie ein König und Richtung Abend hin immer weniger, die ist tatsächlich wahr. Es geht nicht nur um die Kalorienmenge. Wenn wenn man ständig Kleinigkeiten zu sich nimmt, kommt es immer wieder zu Insulin-Ausschüttung.

Lebensmittel mit einem niedrigen glykämischen Index sind tatsächlich eine gute Wahl, weil sie länger satt machen und dafür sorgen, dass die Kohlenhydrate langsamer ins Blut abgegeben werden. Das hat den Vorteil, dass man keine so hohen Insulin Peaks hat oder Insulin stark ausgeschüttet wird. Und man senkt nebenbei das Diabetesrisiko.

Häufig bekomme ich auch die Frage gestellt, ob es besser ist, sich vegetarisch zu ernähren. Ja, vorausgesetzt, man beachtet gewissen Regeln. Wenn man nur Pudding oder Süßigkeiten isst, ist das natürlich nicht gesünder. Aber generell sind pflanzliche Proteine vorteilhafter in Bezug auf das Krebsrisiko als tierische. Rotes Fleisch gilt laut WHO als wahrscheinlich krebserregend.

Welche Rolle spielt der Schlaf?

Eine gewisse Menge an Schlaf ist wichtig. Das niedrigste Krebsrisiko wird zwischen sechseinhalb und sieben Stunden Schlaf beobachtet, die niedrigste Gesamtsterblichkeit bei etwa 7,5 bis 8 Stunden. Was viele nicht wissen: Zuviel Schlaf ist auch nicht gesund. Ab neun Stunden Schlaf pro Nacht steigt die Gesamtsterblichkeit und auch das Krebsrisiko an.


Welche Vorsorgeuntersuchungen empfehlen Sie?

Auf jeden Fall die gesetzlich empfohlenen bzw. die von den Kassen übernommenen: Darmspiegelung, Mammographie, die Vorsorgeuntersuchung zur Früherkennung von Prostatakrebs, die Hautkrebs-Vorsorge. Für Frauen natürlich ganz wichtig, ist die Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt, das Abtasten der Brüste, was man auch selbst unbedingt machen muss, weil ein Großteil der Brust-Tumore von Frauen selbst entdeckt werden.

Außerdem wichtig: der Pap-Abstrich, der in Zukunft durch den HPV Test ersetzt wird sowie die HPV Impfung. Der Abstrich und die Impfung ergänzen sich. Wichtig ist, dass man auch Jungs impft, weil HPV nicht nur Gebärmutterhalskrebs verursacht, sondern auch Peniskrebs und Krebserkrankungen im Mund und Rachenraum. Ich erinnere an die Geschichte von Michael Douglas, der das zum Glück auch publik gemacht hat.


Und was viele nicht wissen: Auch Analkrebs ist sehr oft HPV positiv und die meisten Darm-Tumore entstehen in den letzten Zentimetern vom Darm. Das heißt, wahrscheinlich kann man durch die HPV-Impfung auch die Todeszahlen durch Tumore im letzten Darm-Abschnitt reduzieren. Leider haben wir bisher bei den Mädchen eine Beteiligung von ca. 40 %, bei den Jungs ist sie wesentlich geringer, soweit ich weiß unter 20 %.

Erschreckende Zahlen. Hat diese Impfung Nebenwirkungen?

Wie bei jeder anderen Impfung kann es auch hier zu einer Autoimmunreaktion kommen.




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