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"Unser biologisches Alter – also der Alterungszustand unserer Zellen – ist keine feste Größe, sondern erstaunlich formbar", erklärt Dr. Andrea Gartenbach
30. Mai 2025
Dr. Andrea Gartenbach
Dr. Andrea Gartenbach ist Fachärztin für Innere- und Funktionelle Medizin, Expertin für Longevity und ehemalige Leistungssportlerin. In ihrer aktuellen Kolumne für Premium Medical Circle erklärt sie, warum sie an Präzisionsmedizin glaubt und wie diese funktioniert
Stellen Sie sich vor, Sie sind 85 Jahre alt. Sie stehen auf einem Berggipfel, atmen tief die klare Luft ein und fühlen sich wach, kraftvoll und lebendig.
Altern bedeutet nicht zwangsläufig, an Lebensqualität zu verlieren – im Gegenteil: Der Wunsch, die letzten Jahre des Lebens bewusst, gesund und erfüllt zu erleben, ist heute erreichbar wie nie zuvor. Präzisionsmedizin macht es möglich: maßgeschneiderte Gesundheitsstrategien basierend auf Ihrer individuellen Biologie. Die Präzisionsmedizin verändert grundlegend, wie wir Gesundheit und Altern verstehen – weg von reiner Lebensverlängerung, hin zu mehr Sinn, Vitalität und Lebensfreude.
Die traditionelle Medizin folgt seit Jahrhunderten einem simplen Schema: warten, bis Symptome auftreten, diagnostizieren, behandeln. Für optimale Gesundheit im Alter ist das vergleichbar mit einem Navigationssystem, das erst reagiert, wenn man bereits in den Gegenverkehr auf der Autobahn abgebogen ist.
Man muss nicht wie ich in der Palliativmedizin gearbeitet haben, um folgenden Sachverhalt zu verstehen: Wenn Patienten mit Typ-2-Diabetes, chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder neurodegenerativen Problemen vorstellig werden, sind wichtige biologische Prozesse oft schon seit Jahrzehnten entgleist – lange bevor die ersten spürbaren Symptome auftreten.
Der Durchschnittsmann verbringt die letzten knapp zehn Jahre seines Lebens mit schwersten – und vermeidbaren – chronischen Erkrankungen. Bei der durchschnittlichen Frau sind es sogar zwölf Jahre. Das ist das ernüchternde Ergebnis einer Beobachtungsstudie aus dem Jahr 2024.
Eine Metaanalyse im Journal of Personalized Medicine (2023) mit Daten von über 12.000 Patienten zeigt jedoch, dass präzisionsmedizinische Ansätze Krankenhausaufenthalte um 37 % reduzieren und die gesunde Lebenserwartung um durchschnittlich 8,3 Jahre im Vergleich zu konventionellen Behandlungsmethoden verbessern.
Es besteht also Hoffnung. Denn Gesundheit allein ist nicht das Endziel. Was wir wirklich suchen, sind mehr Jahre voller Energie, Freude, Sinnhaftigkeit. Und genau darum geht es im nächsten Schritt – um ein neues Verständnis von gesundem Altern.
"Ich würde mir wünschen, dass Krankenkassen erkennen, dass ein Paradigmenwechsel weg von der Sick-Care hin zur tatsächlichen Health-Care notwendig ist", so Dr. Gartenbach
„Fullgevity“ – eine Verschmelzung der Worte „Full“ (vollständig) und „Longevity“ (Langlebigkeit) – beschreibt diesen ganzheitlichen Ansatz: ein gesundes, erfülltes Leben mit allem, was dazugehört.
Was das konkret bedeutet, wird für jeden Menschen unterschiedlich aussehen. X möchte mit 75 Jahren noch einen Berg erklimmen, Y an einem See mit einem Glas Wein ein gutes Buch lesen. Z möchte vielleicht noch ein Unternehmen gründen.
Genauso individuell wie unsere Vorstellungen von einem erfüllten Leben im Alter sind, muss auch die Medizin sein. Jeder Mensch stellt ein einzigartiges biologisches und psychologisches System dar.
Eine bemerkenswerte Studie des Weizmann Institute of Science zeigte beispielsweise, dass identische Mahlzeiten bei verschiedenen Menschen völlig unterschiedliche Blutzuckerreaktionen hervorrufen können – abhängig von ihrer individuellen Darmflora, Genetik und ihrem Lebensstil.
Während konventionelle Check-ups oft nur Standardmarker wie LDL-Cholesterin oder Blutzucker prüfen, nutzt die Präzisionsmedizin ein breites Spektrum hochmoderner Diagnostik – von genetischer Sequenzierung über umfassende Blutanalysen mit über 100 Biomarkern, Mikrobiomanalysen bis hin zu KI-gestützter Gesundheitsanalyse. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden hoch individuelle Präventionsstrategien entwickelt: von personalisierten Ernährungsplänen über gezielte Supplementierung bis hin zu optimierten Schlaf-, Bewegungs- und Stressmanagement-Protokollen.
Unser biologisches Alter – also der Alterungszustand unserer Zellen – ist keine feste Größe, sondern erstaunlich formbar. Vergleichbar ist dies mit einem Haus, dessen Grundmauern wir zwar nicht versetzen, dafür aber den Zustand maßgeblich beeinflussen können. Das ist keine Science-Fiction, sondern Realität.
Hierbei geht es bei Weitem nicht nur um Krankheitsvermeidung. Es geht um Vitalität, kognitive Leistungsfähigkeit und emotionale Resilienz. Eine 2022 in Nature Aging veröffentlichte Studie zeigte, dass gezielte epigenetische Interventionen nicht nur das biologische Alter positiv beeinflussen können – sondern messbar zu mehr Wohlbefinden führen.
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Die Präzisionsmedizin nutzt ein breites Spektrum hochmoderner Diagnostik
Ein häufiger Einwand? „Das klingt aufwendig. Und teuer.“ Und ja – Präzisionsmedizin ist kein Quick-Fix. Sie ist eine Investition. In Lebensqualität. In Unabhängigkeit. In gesunde, nicht bloß lange Jahre.
Leider werden viele dieser Leistungen noch nicht von den Krankenkassen übernommen. Würde ich mir wünschen, dass Krankenkassen erkennen, dass ein Paradigmenwechsel weg von der Sick-Care hin zur tatsächlichen Health-Care notwendig ist? Definitiv. Lieber gestern als morgen.
Schon allein, weil es sich dabei um eine kluge finanzielle Investition in die Zukunft handelt. Eine wirtschaftliche Analyse des Global Longevity Consortium (2024) zeigt klar: Jeder Euro, der in präventive präzisionsmedizinische Maßnahmen investiert wird, spart langfristig etwa 5,2 Euro an späteren Behandlungskosten für chronische Erkrankungen ein.
Solange diese Botschaft noch nicht überall angekommen ist, liegt die Verantwortung jedoch bei uns selbst. Wir haben die Werkzeuge an der Hand, um nicht nur länger, sondern vor allem besser, gesünder und glücklicher zu leben.
Die Frage ist nicht, ob wir diese Investition in unsere Gesundheit tätigen wollen, sondern ob wir es uns leisten können, darauf zu verzichten.
Dr. med. Andrea Gartenbach ist Fachärztin für Innere- und Funktionelle Medizin, Expertin für Longevity, Gründerin, Speakerin und ehemalige Leistungssportlerin. Sie steht an der Spitze einer neuen Generation von Ärzten, die die traditionelle Medizin seit Jahren von Grund auf kennt und praktiziert, aber um weitere Aspekte erweitert.
Durch ein nationales und internationales Netzwerk aus hervorragenden Experten, Medizinern und Wissenschaftlern in ihren jeweiligen Bereichen hat Dr. Gartenbach Zugriff auf die neuesten Methoden, Studien, Technologien und Erkenntnisse, die bei der Behandlung ihrer Patienten zum Tragen kommen.